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Die Welt ist, was nicht der Fall ist

Vielleicht ist ja alles ganz anders. So, wie man sich die Welt zurechtlegt, ist sie nämlich nicht. Jedenfalls meistens. Oder vielleicht öfter, als wir glauben? Wer weiss, vielleicht richtet sie sich ab und zu sogar nach den Geschichten, die die Menschen sich über sie erzählen. Weil die Welt selbst erst weiss, was sie sein will, wenn wir ihr zeigen, was sie sein könnte. Oder weil sie das ist, was erzählt werden will? Eine heikle These, zugegeben. Aber vielleicht nicht viel gewagter als die Behauptung, die Welt sei alles, was der Fall ist. Was möglicherweise nicht einmal eine These ist, sondern nur eine unzureichende Umschreibung dafür, dass die Welt die Welt ist. Und nicht anders kann. 

Womit wir bei Dieter Zwicky wären. Der Zürcher Schriftsteller ist ein genialer Wortklauber, Wortverdreher und Weltenschöpfer. Natürlich ist Zwicky notorisch unterschätzt, wie einem das in der Schweiz so rasch passiert. Völlig unverständlicherweise, denn eigentlich müsste es genügen, seine irrwitzig verspielte Erzählung «Hihi – Mein argentinischer Vater» zu lesen, um auf einen Schlag zu sehen, mit welch heilsamen Blessuren man von den literarischen Achterbahnfahrten zurückkommt, auf die Zwicky die Leser schickt.

Worum’s geht? Nicht einfach zu sagen. Um einen Vater, der vor Jahren hätte auswandern können. Nach Argentinien. Es aber nicht getan hat. Um die Frage, ob er ein anderer Vater geworden wäre, wenn er es getan hätte. Und ob er nicht auch dadurch zu einem anderen Vater geworden ist, dass er sich gegen das Auswandern entschieden hat. Darum, wie es wäre, wenn man ihn versuchsweise auswandern liesse. Wie es wäre, wenn es da plötzlich eine Tochter gäbe. Blond, mit Namen Alicia. Und um vieles andere, das nicht der Fall ist. Und das man sich nur zurechtlegt, um der Realität zu zeigen, dass alles auch ganz anders ginge. Und wahrscheinlich sogar ganz anders ist.

 

Dieter Zwicky: Hihi – Mein argentinischer Vater. Erzählung. Edition Pudelundpinscher,  2016. 164 S., etwa Fr. 32.-.

Dieter Zwicky ist 2017 für die Erzählung «Hihi – Mein argentinischer Vater» mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet worden.

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