Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsam Schweifenden, Fünfte Träumerei, 1782

Die letzte Zuflucht eines Denkers

Das Glück währte zwei Monate. Nicht einmal ganz. Anfang September 1765 zog sich Jean-Jacques Rousseau auf die Isle de la Motte zurück, die St. Petersinsel im Bielersee. Ende Oktober musste er sie wieder verlassen – den Ort, der ihm zum schönsten der Welt geworden war.

Der Geheime Rat von Bern hatte die Ausweisung verfügt, und der Amtmann von Nidau hatte klargemacht, dass er den Entscheid gegen Widerstände durchsetzen würde. Da konnte niemand mehr helfen. Auch Friedrich der Grosse nicht, der Rousseau das Bürgerrecht in Neuchâtel verliehen hatte, das damals unter preussischer Herrschaft stand.

Drei Jahre schon war der in Genf geborene Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist auf der Flucht, als er auf der St. Petersinsel ankam. Sein Traktat über den Gesellschaftsvertrag und der Roman »Émile« waren nach dem Erscheinen 1762 in Ungnade gefallen.

Die Sorbonne hatte sie verurteilt, das Parlament von Paris verboten. In Montmorency bei Paris konnte Rousseau nicht länger bleiben. Yverdon, wo er bei einem Freund unterkam, musste er auf polizeiliche Anordnung hin nach wenigen Tagen verlassen, in Môtiers im Val-de-Travers fand er für zweieinhalb Jahre eine Bleibe – bis die Bevölkerung ihn vertrieb. 

Man machte dem Fremden, der sich in wallende Gewänder kleidete und auch sonst die eine oder andere Extravaganz pflegte, unmissverständlich klar, dass man ihn nicht länger im Städtchen dulden wollte. Er wurde auf der Strasse angerempelt, nachts flogen Steine durch die Fensterscheiben seines Hauses.

Weg also, aber wohin? Der Haftbefehl, der in Paris ausgestellt worden war, hatte nach wie vor Gültigkeit. Und rundherum war Feindesland, nicht einmal in seine Geburtsstadt Genf, wo er das Bürgerrecht besass, konnte Rousseau noch reisen. Auch dort hatte man seine Schriften verbrannt.

Auf Gnade konnte ihr Verfasser nicht rechnen. Angebote, nach England oder Schottland zu ziehen, lehnte Rousseau ab. «Meine Liebe zur Schweiz war so gross», schrieb er später in den «Bekenntnissen», «dass ich mich nicht entschliessen konnte, sie zu verlassen». 

Die St. Petersinsel, die er ein Jahr zuvor auf einer Wanderung kennengelernt hatte, schien die Rettung, das ideale Asyl. Ein Ort, wie gemacht für einen, für den es nirgends mehr einen Platz zu geben schien. Ein abgeschiedenes Stück Welt, fast menschenleer, an dem ein zur Einsamkeit Verurteilter in Einklang mit der Natur leben konnte. 

Sechs Wochen nur waren Rousseau vergönnt auf der Insel, aber er schildert sie als Vorahnung des Paradieses. Wer die St. Petersinsel heute besucht, wird ihn verstehen.

Viel hat sich seit damals nicht verändert. Die in verzückter Begeisterung verfasste Beschreibung ohne Zeit und Ziel verlebter Tage, die Rousseau in den «Bekenntnissen» und in der «Fünften Träumerei eines einsam Schweifenden» gibt, gehören zum Schönsten, was über die Schweiz geschrieben wurde. Die Tage am Bielersee seien die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen, schreibt Rousseau. Eine ganze Ewigkeit hätte er dort am liebsten verbracht. Und er hätte sie verbringen können, ohne sich auch nur einen Augenblick zu langweilen.

 

Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsam Schweifenden. Matthes & Seitz Berlin (Übersetzung Stefan Zweifel, 2012), 380 S., Broschur, etwa Fr. 25.-

Aus: 99 beste Schweizer Bücher

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  • Lebensdaten: 1712 (Genf) – 1778 (Ermenonville / Frankreich)
  • Originaltitel: «Les rêveries du promeneur solitaire»
  • Lesetipps:
    «Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts» (1762)
    «Die Bekenntnisse» (1782)
  • Fussnote:
    «Zurück zur Natur»: So oft der kategorische Imperativ des einfachen Lebens auch zitiert wird: Jean-Jacques Rousseau selbst hat ihn nirgends so formuliert.
    Die Kritik, dass Gesellschaft und Kultur den Menschen aus seinem natürlichen Dasein reissen und damit sich selbst entfremden, ist allerdings ein Grundgedanke seiner Anthropologie. In der «Fünften Träumerei eines einsamen Schweifenden» findet die Sehnsucht nach einem Leben in der Natur und das Verzweifeln an einer Welt, die das nicht zulässt, auf traumhaft entrückte Weise Ausdruck.

    Der Philosoph, Schriftsteller, Pädagoge, Naturforscher und Musiker Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Aufklärung, der für eine individuelle Freiheit und gegen den Absolutismus von Kirche und Staat eintrat. Seine Romane, wie «Die neue Heloise», und seine «Bekenntnisse» beeinflussten die folgenden Generationen von Philosophen, Denkern und Pädagogen.

    # Natur, Heimat, Ausbruch