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POSTKARTEN BUCHTIPP: Torkelnde Elche
Torkelnde Elche und Tage wie Rasiermesser
Eigentlich hiess er Andreas Flückiger. Aber er war Endo Anaconda. «Moudi», «Aare», «Walliselle», «Znüni näh»: Viele Lieder von Stiller Has, zu denen er die Texte schrieb, sind Teil des Schweizer Volksliedguts geworden. Und gut drei Jahre nach seinem Tod kann man nur sagen: Endo Anaconda fehlt uns. Mit seiner kratzenden Bluesstimme, dem leicht verwaschenen Berndeutsch, der imposanten Erscheinung, dem kalkuliert nachlässigen Auftreten. Und vor allem mit seiner irrwitzig versponnenen, liebevoll verrückten, nachdenklich verspielten Sprache.
Mit dem Erscheinen des Albums «Pfadfinder» hatte der Berner Sänger, Songwriter und Schriftsteller im Frühling 2020 das Ende von Stiller Has angekündigt. Er wollte etwas anderes machen. Zeit haben. Zum Schreiben. Ein Gedichtband sei geplant, sagte er damals. Eine Auswahl von Texten hatte er schon getroffen. Nur redigiert und lektoriert hätte das Ganze noch werden müssen. Es kam nicht mehr dazu.
Nun kann man einige von Endo Anacondas Gedichte trotzdem lesen. Zum Glück. Es ist seiner Tochter Nina Rieben und zwei seiner Weggefährten zu verdanken. Aus fünf Bundesordnern mit Gedichten, Fragmenten, Versuchen, Notizen und Versfetzen, die Anaconda hinterliess, haben sie «Schlaflieder, Liebesgedichte, Seuchentexte» zusammengestellt. Ein schmaler Band, in dem man sich lange tummeln kann. Zwischen verwundeten Elchen, die die Altstadt hinunter torkeln, roten Geranien, die die Stadt ausbluten und einem Jodel, der über Gletscherblau lautlos aus einem Eispalast segelt. Möglicherweise an einem «Tag wie ein Rasiermesser».
Das Ganze ist ein Riesenvergnügen. Nur, ganz so rasch wird man nicht fertig mit Endo Anacondas Wortgeburten. Aber das merkt man oft erst beim zweiten oder dritten Lesen. Zum Beispiel, wenn man sich den «Herzstillständer» vorstellt, von dem es heisst: «Er denkt Bomben / und schreit Lunten / macht schlechte Stimmung / bei uns im Spunten. / Zu seiner Hassnacht / In der Eintracht / wenn er mit seinem Ein-Mann- / Verein tagt.» Manchmal muss man sich auch nur eines von Endos Wörtern auf der Zunge zergehen lassen, um ins Träumen zu kommen: «blauumädert» zum Beispiel.
Endo Anaconda: «Im Gespinst, in dem ich wohne». Der gesunde Menschenversand, 2025. 168 S. etwa Fr. 37.-
Hrsg. von Martin Bieri, Matthias Burki, Nina Rieben. Nachwort Balts Nill. Hardcover mit Audio-CD (Endo Anaconda & Boris Klečić live am woerdz-Festival 2020*)
*Ausschnitt:
Endo Anaconda & Boris Klečić: Karpfen. Live am woerdz-Festival 2020
Endo Anaconda & Boris Klečić: Roter Mohn II. Live am woerdz-Festival 2020
Video: Joshua Muhl, Video-Edit: trinipix_postproduktion, Ton: Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).