POSTKARTEN BUCHTIPP: Der Sonderling aus Lützelflüh

Wenn von Jeremias Gotthelf die Rede ist, kommen die einen ins Schwärmen. Die anderen zucken verlegen die Schultern. Gelesen haben ihn meistens weder die einen noch die anderen. Der Sonderling aus dem Emmental ist zu einem nationalen Mythos geworden, aber man weiss kaum noch, wofür er eigentlich steht. Dabei muss man ihn einfach lesen, um zu spüren, dass da einer ringt. Um das, was er als Wahrheit erkennen möchte. Gotthelf ringt mit sich, mit der Welt, mit der Bosheit der Menschen, von der er nur zu gut weiss, dass sie sich meisterhaft zu tarnen versteht. Und dass sie ein leichtes Spiel hat in einer Welt, in der der Stärkere sagt, was gilt. 

Persönliche Freiheit? Darauf sollte man sich nicht zu viel einbilden, fand der Pfarrer aus Lützelflüh. Den Erwartungen, die sich mit dem Liberalismus, der Verfassung von 1848 verbanden, hielt er entgegen, was er in seiner Gemeinde Tag für Tag beobachten konnte: Was Menschen anderen Menschen antun. Aus Kalkül. Und weil sie sich weder um Gott noch Teufel scheren, wenn Angst oder Eigenliebe sie antreibt. 

Der Band mit Erzählungen, den der Diogenes-Verlag als Auftakt einer neuen Werkausgabe vorlegt, zeigt Gotthelf als illusionslosen Chronisten menschlicher Bosheit. Zum einen in den grossen Erzählungen, allen voran «Die schwarze Spinne». Aber auch in den Kalendergeschichten. Eine handelt von einem Mann, dem der Arzt den baldigen Tod ankündigt. Noch in seinen letzten Stunden treibt den Mann die Sorge um, ein anderer könnte etwas von seinem Geld haben wollen. Er schleppt sich unter Qualen aus dem Bett, verbrennt das Geld im Ofen, sieht mit Behagen zu, wie die Scheine in Flammen aufgehen. Dann kommt es anders als gedacht. Die Strafe folgt. Aber das Böse siegt trotzdem.

Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne und andere Erzählungen. Diogenes-Verlag, S. 560, Fr. 40.-.

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