POSTKARTEN BUCHTIPP: Im Sog der Erinnerungen

Erinnerungen sind trügerisch, gelegentlich gar arglistig. Sie ändern sich im Laufe der Jahre, passen sich Lebensabschnitten und der persönlichen Entwicklung an, wechseln ihre Form und Farbe. Auf Erinnerungen kann man sich nie gänzlich verlassen, und genau darin liegt auch deren Faszination. Wie kleine Steinchen fügen sich Erinnerungsstücke immer wieder zu neuen Lebensmosaiken zusammen. 

Monika Neun hat mit ihrem Romandebüt «Und dann verschwinden» ein solch faszinierendes, vielschichtiges Mosaik gelegt. Die Ich-Erzählerin, eine junge Frau, begibt sich auf eine Abenteuer- und Lebensreise, um etwas Neues zu erleben: Aufbruch, Ausbruch. Sie verlässt ihre Heimatstadt und zieht in den Süden. Sie mietet ein Zimmer, begegnet einem Zigarillo-rauchenden, schweigsamen Mann, zieht in seine grosse Wohnung und fährt nachts mit ihm auf einem seinem Motorrad, einem Zyklop gleich, durch die Welt. Die Zeiten überlagern sich, die Nacht wird zum Tag, Realität und Erinnerungen werden eins: Die Kindheit, die Grossmutter, der Bruder, Liebhaber tauchen bruchstückhaft auf und verbinden sich mit den grossartig  beschriebenen Landschaften und Städten, die die junge Frau besucht. Dazwischen Parties, Sex, Drogen und Musik, Auszüge aus ihrer Theaterarbeit als Drachentöterin und philosophische Gedankengänge.

«Und dann verschwinden» ist eine faszinierende Erinnerungs- und Gedankenwelt. Die Fragmente und kurzen Episoden bilden ein komplexes und gleichsam poetisches Mosaik, in dem sich Zeiten und Orte auflösen. Das Buch hat einen nostalgisch-schwermütigen Unterton, der einen Sog ausübt und dadurch verstärkt wird, dass die Autorin und Regisseurin Monika Neun kurz nach Fertigstellung ihres Romans im Sommer 2022 einer Krebserkrankung erlag. Ein berührendes Vermächtnis.

Monika Neun: Und dann verschwinden. Atlantis Verlag, Zürich 2023. 144 S., etwa Fr. 28.-

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