Luisa Famos : Unterwegs – In viadi, Gedichte

Wenn von Luisa Famos die Rede ist, sind Begriffe wie «Ikone» und «Legende» schnell zur Hand. Das mag am tragischen frühen Tod der Dichterin liegen, hat aber auch mit der Aura ihres Werks zu tun. Ihre Gedichte evozieren quasi-mystische Momente der Verschmelzung mit einem Du – Gott oder dem Geliebten. Und ihre Gedichte haben etwas Durchlässiges, Zerbrechliches; wie der Flügelschlag der Schwalbe, die zum Bild für die Dichterin selbst werden sollte, und zu einer Chiffre für die Sehnsucht schlechthin, wie die Literaturwissenschaftlerin Mevina Puorger schreibt. Randulina heisst die Engadiner Schwalbe klang- und schwungvoll auf Vallader, fast kann man sie ihre Kreise am Himmel ziehen sehen. In ihrem Gedicht «Lügl a Ramosch / Juli in Ramosch» verdichtet sich die Sehnsucht nach der Freiheit des Vogelflugs im Schlagen der Flügel gegen die Begrenzung des scheinbar weit offenen Himmels. Doch können wir diese Schwalben überhaupt sehen, oder erahnen, erträumen wir sie nur? So wird die Fassade des Hauses zur Leinwand, auf der die von den Vögeln bewegte Innenwelt erdenschwerer Menschen sichtbar wird.

Juli in Ramosch

Drei Schwalben schlagen ihre Flügel
gegen den Sommerhimmel

Drei Schatten zittern manchmal
über die weisse Wand meines Hauses.

Die Atmosphäre von Abschied, die bereits in diesem melancholischen Sommergedicht zu spüren ist, verstärkt sich mit der Krebserkrankung und der Nähe zum Tod: «Meiner Trauer Lebwohl sagen / die mit den Flügen / der Vögel verreist / streifend die Horizonte». Doch die stark autobiografisch gefärbten Texte sah sie selbst nicht zur Veröffentlichung vor; nur Gedichte, die einen fast kristallinen Abstraktionsgrad erreichten, waren in ihren Augen gut genug.

In ihren schönsten Texten lässt Famos Gegensätze – Hell und Dunkel, Tag und Nacht – ineinander übergehen und öffnet so einen Zwischenraum der liebenden Begegnung. Im Gedicht «Es tagt» umarmen sich Tag und Nacht:

Mit blossen Armen schwerelos umarmt
der Tag die Nacht
Sterngirlanden Verlöschen Entschwinden in den weissen Gewölben Des Himmels
Über den Horizont
kommt die Sonne zur Welt.


Luisa Famos: Unterwegs / In viadi. Gedichte in Rätoromanisch und Deutsch. 
Übersetzt und mit einem Nachwort von Luzius Keller. Limmat Verlag, 144 S., Leinen. Etwa Fr. 32.-

  • Lebensdaten: 1930 (Ramosch) – 1974 (Ramosch)
  • Lesetipps:
    «Ich bin die Schwalbe von einst» / «eu sun la randolina d’ünascura». Gedichte aus dem Nachlass (2004) (vergriffen), «Unterwegs / In viadi». Gedichte (2019, versammelt die ersten beide Gedichtbände)
  • Fussnoten: Luisa Famos schrieb im Unterengadiner Idiom Vallader und war unter anderem Moderatorin der ersten rätoromanischen Sendung im Schweizer Fernsehen. Zu ihren Lebzeiten wurden nur ein einziger Gedichtband veröffentlicht: «Mumaints» («Augenblicke»); kurz nach ihrem Tod erschien «Inscunter» («Begegnungen»). Die Gedichte aus ihrem Nachlass wurden 2004 von Mevina Puorger und Franz Cavigelli herausgegeben. Sie ist auch in «Moderne Poesie der Schweiz» vertreten.
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