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Christian Kraft : Air
Weisse Flächen, schwarze Leere
Aus dem Zugfenster betrachtet, zieht eine Landschaft vorbei, karg und unwirtlich. Wer Kracht liest, kennt diesen Gestus: Bewegung, Ortswechsel, Reisen. Seine Figuren sind nie sesshaft. Sie treiben von Zürich an ferne Küsten, von Europa bis in die Tropen, stets auf der Flucht vor Stillstand und innerer Starre. Unterwegssein bedeutet bei Kracht nie blosses Fortkommen, sondern die fiebrige Suche nach einem «Dahinter», nach Sinn in einer Welt aus Oberflächen. Dieses Leitmotiv kulminiert nun in seinem neuen Roman «Air», der das Motiv des Reisens noch radikaler zuspitzt.
Im Zentrum steht Paul, ein schweigsamer Innenarchitekt aus der Schweiz. Sein Spezialgebiet: Häuser so arrangieren, dass sie wie Versprechen auf ein schöneres Leben wirken. Auf den windumtosten Orkneys-Inseln richtet er leerstehende Räume für den Verkauf her – perfekte Illusionen auf Zeit. Eines Tages erreicht ihn ein Auftrag des Designmagazins Kūki: Er soll nach Norwegen reisen, um das Green Mountain Data Centre in einem exakten Weiss zu gestalten. Begleitet wird er von dem undurchsichtigen Redakteur Cohen. Doch sobald Paul diesen Hightech-Ort betritt, gerät die Realität selbst ins Wanken: Eine Sonneneruption löscht die bekannte Welt aus, und Paul findet sich in einem mythisch anmutenden Parallelreich wieder.
Traumwanderung ins Ungewisse
In dieser zweiten Wirklichkeit begegnet Paul der jungen Bogenschützin Ildr. Gemeinsam ziehen sie durch unbewohnte, gefährliche Landschaften, die zwischen Märchenhaftigkeit und Endzeitstimmung schwanken. Immer wieder tauchen Fragmente seiner früheren Welt auf: Objekte der Moderne, Relikte ästhetischer Vollkommenheit, die nun wie fremde Artefakte wirken. Die Reise verwandelt sich in eine Traumwanderung, in der Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen.
Krachts Sprache bleibt makellos geschliffen, jedes Bild glitzert wie frisch poliert. Doch genau in dieser makellosen Oberfläche liegt die Diagnose: je perfekter die Form, desto grösser das Nichts darunter. Paul verliert im Streben nach idealer Gestaltung seinen Beruf und seine Identität. Das Datenzentrum und die klinische Ästhetik sind allesamt Orte, in denen die Menschlichkeit aufgelöst wird, bis nur noch sterile Leere übrig bleibt.
Parabel auf unsere Gegenwart
«Air» lässt sich als Spiegelbild einer Epoche lesen, in der Technologie und Künstliche Intelligenz unser Leben ordnen und optimieren. Was zunächst nach Vollkommenheit klingt, entpuppt sich als neue Form der Sinnlosigkeit. Wenn alles gespeichert, berechnet, perfektioniert ist – was bleibt dann noch authentisch? Krachts Roman gibt darauf keine eindeutige Antwort. Er zeigt vielmehr, dass der Drang nach totaler Kontrolle nicht Erfüllung bringt, sondern neue Abgründe.
«Air» ist mehr als ein surrealer Abenteuer- oder Fantasyroman. Es ist ein modernes Märchen, das erzählt, wie die Suche nach Halt in einer Welt aus Clouds und Algorithmen in eine existentielle Leere führen kann. Die Reise, die Paul antritt, ist letztlich auch unsere eigene: hinaus in eine Zukunft, die glänzend erscheint und doch beklemmend leer ist. Krachts Botschaft wirkt wie ein Echo: Je perfekter die Oberfläche, desto bedrohlicher der Abgrund dahinter.
Christian Kracht: «Air». Kiepenheuer & Witsch 2025. 224 S., Fr. ca. 30 Fr.
Siehe Link zu Instagram für mehr Bilder und Kurzfassung
Christian Kracht ist mit «Faserland» (1995) vertreten in «99 beste Schweizer Bücher», Verlag Nagel & Kimche
- Lebensdaten:
1966 (Saanen) - Lesetipps:
«Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» (2008)
«Imperium» (2012)
«Eurotrash» (2021) Nominiert für den International Booker Prize 2025 - Fussnoten:
«Faserland» ist der erste Teil eines Triptychons, bestehend aus den Romanen «Faserland», «1979» und «Ich werde
hier sein im Sonnenschein und im Schatten».
Für seinen Roman «Die Toten» hat Kracht 2016 den Schweizer Buchpreis erhalten, für «Eurotrash» 2022 den Schweizer Literaturpreis.
# Reisen, Realität, KI, Perfektion, Suche