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POSTKARTEN BUCHTIPP: Verse, die schweben
Es gibt Dinge, die darf man nicht konsequent zu Ende denken. Weil einem dabei schwindlig wird. Die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott zum Beispiel. Für Aurelio Buletti ist das ein Grund, es zu tun: «Stellen wir uns die hohe Verwunderung / Desjenigen vor, der uns / nach seinem Ebenbilde / geschaffen hat», heisst es in einem seiner Gedichte, «wenn er sich wiederfindet / auf der Suche nach Sich selbst / in den Menschen.» In wenigen, locker gefügten Zeilen entwirft der Tessiner Lyriker eine Art negative Theodizee. Mit einem Gott, der einem leidtun kann. Und über den man trotzdem ein bisschen schmunzelt, wenn man sich vorstellt, wie er dasitzt und feststellen muss, dass seine Schöpfung – nun ja, nicht ganz den Ansprüchen entspricht, die er selbst an sich gestellt hat.
Der vor zwei Jahren verstorbene Aurelio Buletti gehörte zu den Stillen im Land. Zu denen, die nicht auffallen wollen. Er tat, was er tun wollte: schreiben. Und er tat es unbeeinflusst von den Moden, die den Literaturbetrieb prägen. Konsequent auf eine Weise, die sich selbst nicht zu ernst nimmt und sich bewusst ist, dass Schönheit nicht herbeigezwungen werden kann. «Der Vers will glänzen / will makellos sein, / und wirksam, gekonnt: / doch eine kleine Unebenheit, / eine Nachlässigkeit mag ihm gut anstehen», notierte er einmal. Im Wissen darum, dass Nonchalance die Zwillingsschwester der Perfektion ist. Aber einer Perfektion, die um ihre Grenzen weiss.
Aurelio Bulettis Verse glänzen. Und atmen. Sie sind leicht, als wären sie nur so hingeschrieben. Und bringen einen fast selbst zum Schweben. «Selig die Reichen, / die den See mit weissen / Segeln bevölkern», hebt ein Gedicht Bulettis mit grosser Geste an, um unversehens zum zauberhaften Liebesgedicht zu werden: «dass sie der Wind bis zum Abend begleite, / halt ich am Ufer / dich fest in den Armen: / ein jegliches Reich sei das ihre, / von uns wird nur bleiben / ein leichtes Zeichen, / so lieblich war, und erhaben, der Tag.»
Aurelio Buletti: Nicht jedes Staunen ist ohne Stimme / Non ciascuno stupore è senza voce. Gedichte 1970-2009. Herausgegeben und übersetzt von Christoph Ferber. Nachwort von Giovanni Orelli. Limmat-Verlag, Zürich 2010. 112 S., Fr. 38.-.