POSTKARTEN BUCHTIPP: Gelogen, so was von gelogen

Manchmal erlangen alltägliche Gegenstände und Situationen eine subtil-poetische Sprengkraft – vor allem dann, wenn die Betrachterin Blicke aus einer anderer Perspektive auf sie wirft. Oder dazu gezwungen wird. War es Corona und die plötzliche Entschleunigung, die die Autorin Martina Caluori zu diesen 23 Miniaturen animiert hat? So heisst es im ersten Text: «Keine Termine, Zeit für sich und ganz viel Ruhe. Sagen sie. Gelogen, so was von gelogen. Kaum auszuhalten. Wenn das noch lange so weitergeht, werde ich krank davon.» Was für ein Intro. Ein kraftvolles Statement für die weiteren Gedanken und Kürzestgeschichten, die folgen. Scharf beobachtet, suggestiv beschrieben, Wort für Wort. Wir sehen Berge voller Daten und Studien, die Furcht verströmen, trinken bereits morgens um 9 Uhr Grünen Veltliner, begleiten Teenager, Badende, Reisende im Alltag. Vervollständigt werden die kurzen Episoden voller unerwarteter Assoziationen durch ebenso eindringliche Zeichnungen von Simone Züger, die einen verspielten Kontrapunkt bilden. Die weissen Linien und Buchstaben auf den schwarzen Seiten vereinen sich zu einem künstlerischen Gesamtkunstwerk, das zum leicht verschobenen Sinnieren und Träumen anregt. «Weisswein zum Frühstück», so der Titel dieses wunderbaren Büchleins, ist gleichsam Programm: Man trinkt, spürt die wohlige Wirkung des Alkohols und vergisst. «Nichts ist geschehen. Nichts ist zu sehen. Die Unschärfe des Erinnerns. Die Angst vor der eigenen Geschichte.»

Martina Caluori (Text), Simone Züger (Zeichnungen): “Weisswein zum Frühstück”. Lectorbooks 2022. 160 S., Fr 30.-

Siehe Link zu Instagram für mehr Bilder