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POSTKARTEN BUCHTIPP: Die Grande Dame der leisen Töne
Es ist Februar. Kalt, dunkel. Eine Frau kommt in ein Dorf im Tessin. Nahe der Grenze zu Italien. Früher hat sie hier gelebt. Nun ist sie fremd geworden, aber was heisst das schon. Orion ist gestorben. Jahre ihres Lebens hat die Frau mit ihm verbracht. Dann flüchtete sie vor ihm. Jetzt steht die Totenmesse an, Orions Leichnam ist in der Dorfkapelle aufgebahrt. Die Nacht vor der Messe verbringt die Frau in der herrschaftlichen Villa des Dorfs, die im Lauf der Zeit zu einem Wirtshaus wurde. Nun steht sie leer, die Tür ist offen, der Festsaal verlassen. Mit dem Handy leuchtet die Frau zur Decke: zartblauer Himmel, Elefanten, Giraffen, ein Leopard. Fresken, die an die grossen Zeiten des Hauses erinnern.
Vor dem Fenster sind Palmen zu sehen. Und das unruhige Flackern der Ginsterbüsche, aber das ist gar nicht wahr, die sind lang verblüht. Vielleicht sind es die Feuer auf der Insel Lesbos, wo Tag für Tag Scharen von Flüchtlingen ankommen. Durchnässt, frierend, ängstlich. Auch im Dorf sind sie. Kommen, man weiss nicht woher, in eine Fremde, von der sie nichts zu erwarten haben. Ziehen durchs Dorf wie die maskierten Gestalten, die sich gegen Morgen im Dorf zeigen, als kämen sie aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Aber auch das ist vielleicht gar nicht wahr.
Gertrud Leuteneggers Roman «Späte Gäste» ist ein Schattenspiel, das im Halbdunkel zwischen Traum und Erinnerung angesiedelt ist. Ein wunderbares Buch, das davon erzählt, was es heisst, nirgends zuhause zu sein. Auch im eigenen Leben nicht, das sich manchmal anfühlt wie ein Mantel, der zu Boden gleitet, ohne dass man ihn festhalten kann. Vom Flüchtlingselend im Mittelmeer schweifen die Gedanken der Erzählerin zu den Erinnerungen an ihre Tochter. Oder zu den Toten, deren Schatten über die Wände huschen. «Dass man an so viel Stille erwachen kann, ich wusste es nicht», heisst es gegen Ende des Buches einmal. Man kann. Und niemand wusste es so gut wie Gertrud Leutenegger. Am Wochenende ist die Grande Dame der leisen Töne 76-jährig gestorben.
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 174 S., Fr. 33.90
Buchtipp: Gertrud Leutenegger: Partita. Nimbus Verlag, 84 S., Fr. 22.-. Instagram für mehr Bilder
«Vorabend» von Gertrud Leutenegger ist einer der Coup de coeur in 99 besten Schweizer Bücher