POSTKARTEN BUCHTIPP:
Leere Stellen im Leben

Es gibt diese weiten Plätze des italienischen Malers Giorgio de Chirico, die, eingetaucht in warme, erdige Farbtöne und umrahmt von Säulengängen, eine Sogwirkung entfalten. Der  als «metaphysisch» bezeichneten Kunststil beschreibt die Stimmung treffend. Ein Flimmern zwischen dem Realen und Irrealen, dem Irdischen und Überirdischen. Genauso verhält es sich mit dem Schauspieler Matteo, der in einer süditalienischen Kleinstadt auf der Piazza d’Oriente in sitzt und eine Geschichte schreibt. Seine Lebensgeschichte.

Die Karriere beginnt er als Pantomime. Danach wird er gefeierter Shakespeare-Interpret, brilliert als King Lear und verliert eines Tages auf der Bühne seine Sprache. Sein sonst so phänomenales Gedächtnis lässt ihn im Stich, wenige Tage nach dem Begräbnis seiner grossen Liebe. Matteo sitzt also auf der Piazza, sinniert über sein Leben und begegnet einer Frau. Mit ihr reist in seine unerwartete Vergangenheit.

Der Zürcher Schriftsteller Jürg Beeler hat mit «Die Zartheit der Stühle» einen Roman geschrieben, der wie de Chiricos Plätze eine unbeschreibliche Magie ausübt. Die kurzen Episoden und Erinnerungen aus Süditalien, Berlin und Frankreich greifen ineinander wie ein biographisches Räderwerk und verzahnen sich zu einer geheimnisvollen Lebensgeschichte. Der subtile Stilist Beeler findet für Mattos Sprach- und zunehmende Ratlosigkeit wunderschöne, fliessende Sätze. Zudem spielt Beeler gekonnt mit den Zufällen und Wendungen in Matteos Leben, die dieser erst erfasst, als es zu spät ist. Der Schauspieler

hält seine Geschichte in Heften fest, auf den Stühlen der süditalienischen Piazza, damit sie ihm nicht noch einmal entgleitet.

Jürg Beeler: Die Zartheit der Stühle. Dörlemann Verlag, 2022. 224 S., Fr. 28.-.

Siehe Link zu Instagram für mehr Bilder