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POSTKARTEN BUCHTIPP: Ein Wort, auf das man gewartet hat
Manchmal braucht es nur ein Wort, und der Tag ist gerettet. Ein Wort, das von irgendwoher kommt. Vielleicht ist es gar nicht für einen selbst bestimmt. Man fängt es auf, zufällig, aber man weiss auf einmal ganz sicher: Es ist ein Wort, auf das man gewartet hat. Lichtwelpen ist so ein Wort. In einem wunderbaren Gedicht von Thomas Dütsch jagen Lichtwelpen durch die Dämmerung, «wenn / sie ihre Schnauze gegen meine Schenkel drücken und / mich winselnd bedrängen in ungestümer Daseinslust / weil sie mir den Winter aus dem Gesicht lecken wollen».
Auch Liebesgründler ist ein Wort, das einen Tag retten kann. Oder Daunenhäusler. Wie solche Worte den Weg in Thomas Dütschs Gedichte finden, weiss womöglich nicht einmal er selbst. Aber sie sind da. Vielleicht, weil sie sich bei Zürcher Lyriker besonders wohlfühlen. Weil er mit ihnen umzugehen weiss. Sie versteht. Nicht einschüchtert. «Der Feind des Wortes ist das Wort», heisst es in einem Gedicht seines 2022 erschienenen Gedichtbands «Zwischenhoch». «Der Feind des Wortes ist das Wort / Reiseklavier zum Beispiel oder Levkoje / sind Wörter, die ich gern zu stiller Stunde / keimen wachsen und erblühen lasse.»
Wenn man sie wachsen lässt, erzählen die Worte Geschichten. Geschichten, wie nur Worte sie erzählen können. Und wie vielleicht nur Thomas Dütsch sie aufschreiben kann. Vom Rollkoffer zum Beispiel, den die polnische Nachbarin am frühen Morgen bei eisiger Kälte im oberen Stockwerk durch eine alaskische Kleinstadt zieht. Vom Lebermoos, das über die Stirn wandert. Oder von Disteln, die an den Schläfen erblühen, während Echsen sich an Hals und Kinn sonnen.
Manchmal stellen Worte auch Fragen. «Ich sitze im Ristorante Capelli in Prada und / möchte die beiden Hände sehen welche / das blaue Küchentuch über die vorgewärmten / Tassen auf der Kaffeemaschine gelegt haben», heisst es in einem von Dütschs Gedichten. Und auf einmal scheint alles hell und klar. Das blaue Küchentuch. Die Hände. Man möchte sie sehen.
Thomas Dütsch: Zwischenhoch. Gedichte. Nimbus-Verlag, Wädenswil 2022. 84 S., Fr. 25.90.