POSTKARTEN BUCHTIPP: Träumen verboten

Sie tragen Kutten wie die Mönche. Und Sandalen, auch im Winter. «Wie unser Herr Jesus Christus», bekommt Arthur Goldau zur Antwort, als er sich beim Eintritt in die Klosterschule über die Kleidungsvorschriften im Kloster Maria Schnee erkundigt. Dass er hier zur Schule soll, haben die Eltern entschieden, aber eigentlich war es gar kein richtiger Entscheid, denn die Schulzeit im Internat gehört zur Familientradition.

Die Himmelskönigin wacht über allem, was die Brüder und die Zöglinge tun. Und Thomas Hürlimann erinnert sich in «Der Rote Diamant» auch an seine eigene Internatszeit, wenn er die Geschichte von Arthur Goldau erzählt, bei der man sich manchmal wie bei Umberto Eco fühlt. Die Gestalten in Maria Schnee sind gezeichnet von einem Leben, das jahrein, jahraus um die Verehrung der Heiligen Jungfrau kreist und andere Jungfrauen nur als Versuchungen des Bösen gelten lässt. 

Die Schüler – Schülerinnen gibt es selbstverständlich keine – sollten es gleich halten, so lautet das  Gebot. Ganz so einfach ist das freilich nicht einzuhalten, auch wenn man nicht durch ewige Gelübde gebunden ist, und so träumen die Eleven Nacht für Nacht von «Titten, Schnitzeln, Hintern, Fritten». Das ist schändlich, denn auch Träumen ist verboten. Aber es ist nicht ganz unverständlich, denn zu Essen gibt bekommen die jungen Männer eher knapp, die Schlafsäle sind nicht geheizt und wahrscheinlich sind die Träume manch eines ehrbaren Paters von ganz ähnlichen Gelüsten durchzogen wie die seiner Schutzbefohlenen.

Manchmal ergeben sich, vielleicht gerade dadurch, Augenblicke der Vertrautheit zwischen den beiden. Mehr als Augenblicke sind es freilich nicht, auch wenn der zu «Zögling 230» gewordene Arthur noch so gern das Vertrauen des einen oder anderen Paters oder Fraters erwerben würde. Denn er möchte in die noch nie gelüfteten Geheimnisse des Klosters eindringen. Ein Edelstein aus der Krone der Habsburger soll irgendwo in den alten Mauern verborgen gehalten werden. Das ist vielleicht weniger fantastisch, als es klingt. Denn mit den Habsburgern ist das Haus verbunden. Einmal jährlich kommt Exkaiserin Zita zu Besuch, und was die Verbindungen zum Herrscherhaus betrifft, erfährt Arthur Goldau bald Dinge, die er sich nicht hätte vorstellen können.

Von der Welt ist diese scheinbar in sich ruhende Insel abgeschnitten. Doch trotz Gott, Gebeten und Gelübden kann sich das Kloster den Zeitläuften nicht ganz entziehen. 1968 schlägt bis nach Maria Schnee durch. Thomas Hürlimann erzählt es als wunderbare Groteske, wie Bob Dylan, Friedrich Nietzsche und die Vietcong-Fahne den Frieden der Mönche stören und den Zöglingen ein Gefühl lustvoller Anarchie vermitteln. Mit dem Roten Diamanten übrigens ist es nicht ganz so einfach. Der Schlüssel zur Lösung liegt in der Bibliothek. Aber ein Schlüssel ist nicht mehr als ein Schlüssel. Es braucht auch ein Schloss, das passt.

Thomas Hürlimann: Der Rote Diamant. S.Fischer-Verlage, S. 320, etwa Fr. 30.-

Siehe auch Beitrag in «99 beste Schweizer Bücher» zu Thomas Hürlimann «Das Gartenhaus»

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