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Eine Geschichte, die erzählt werden muss
Ob das eine Novelle ist? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Thomas Strässles «Fluchtnovelle» ist jedenfalls eine Geschichte, die erzählt werden muss. Weil sie so unerhört ist, dass man, fast sechzig Jahre nachdem sie sich ereignet hat, daran erinnern muss, dass Geschichten wie diese möglich waren. Es ist die Geschichte von Thomas Strässles Eltern. Sein Vater, Student, reist 1965 in die DDR. In Erfurt lernt er eine junge Frau aus Dresden kennen. Die beiden verlieben sich.
Hier wäre die Geschichte zu Ende, wenn es nach den Gesetzen der DDR gegangen wäre. Um die Staatsgrenze zu passieren, braucht es ein Visum, das die junge Kunststudentin nie bekommen wird. «Republikflucht» heisst der Tatbestand im Jargon der DDR, und darauf stehen hohe Strafen. Das Land muss die Grenzen mit Stacheldraht umgeben, damit es seine Bewohner nicht verliert. Wer es verlässt, schädigt den Arbeiter- und Bauernstaat ökonomisch und politisch, wie die Juristen sagen.
Der junge Schweizer und die Dresdner Studentin geben nicht auf. In der Art einer Spurensuche, schildert Strässle, wie sie einen Plan schmieden, um ihr Glück zu finden. Die DDR auszutricksen, ist das eine. Das andere ist, die Schweizer Behörden hinters Licht zu führen. Strässles Vater recherchiert Fluchtwege, wird zum Passfälscher. Das Paar inszeniert ein Verwirrspiel, das an einen Agentenroman erinnert. Nur, die Geschichte ist wahr. Und die Flucht ist gelungen. Im Sommer 1966 reist die junge Frau in die Schweiz ein.
«Fluchtnovelle» changiert zwischen Erzählung und Tatsachenbericht. Strässle hat minuziös recherchiert und stützt sich auf ein Interview, das Hermann Burger mit seinen Eltern führte. Burger wollte die Geschichte literarisch verarbeiten. Er hat es nie getan. Thomas Strässle holt das nach, auf seine Weise. Und erzählt eine Geschichte, die unbedingt erzählt werden muss.
Thomas Strässle: Fluchtnovelle. Suhrkamp-Verlag, Berlin Oktober 2024. 121 S., etwa Fr. 27.-