POSTKARTEN BUCHTIPP: Stumme Anklage

Stille kann laut werden. Sehr laut. Dann ist sie unheimlich, ungemütlich, anklagend. Die Schriftstellerin Yael Inokai erzeugt mit ihrem Buch «Ein simpler Eingriff» eine solche Stimmung. Die Geschichte beginnt ruhig, doch mit jedem Satz, mit jeder Seite wird sie verstörender. Yael Inokai benötigt keinen Aufschrei zu Beginn, um auf das Skandalon hinzuweisen. Sie macht dies viel subtiler mit einer präzisen, suggestiven Sprache, die die Leserin und den Leser einlullt.

Meret ist Krankenschwester in einer Klinik, die neuartige Hirnoperationen durchführt. Sie assistiert dem Chirurgen und kümmert sich um die Patienten, die während des Eingriffs wach bleiben. Meret hat eine ruhige Art, die Vertrauen und Zuversicht einflösst und beruhigt. Sie erzählt Geschichten, spielt Karten. Und sie geniesst das Vertrauen des Arztes, der mit ihr über Alltag und Leben sinniert und dem sie nicht widerspricht.

Merets weisse Uniform, die geregelten Klinikabläufe, die Autorität des Mediziners lassen sie nicht an ihrer Arbeit und den Operationen zweifeln. Doch zwei junge Frauen, die Patientin Marianne und die Zimmernachbarin Sarah, bringen Merets Überzeugungen ins Wanken. Marianne, ein Mädchen mit unbeherrschten Wutausbrücken, soll durch die Hirnoperation von ihren psychischen Störungen befreit werden. Doch der Eingriff beschädigt das Hirn, Marianne taucht ab in eine apathische, stumme, innere Welt. Die Krankenschwester Sarah, mit der Meret eine Liebesbeziehung hat, öffnet ihr gleich doppelt die Augen: über das Leben und über die fatalen Nachwirkungen der Operationen

Yael Inokai ist mit «Ein simpler Eingriff» ein grosser Roman geglückt, einer, der existenzielle Fragen an uns richtet: Lässt sich alles, was vermeintlich aus der Norm fällt, durch medizinische Eingriffe eliminieren? Was sind psychischen Störungen? Gehört Homosexualität dazu? Wohin führt blinder Glaube an Autoritäten? Yael Inokai ist eine feinfühlige Beobachterin und Stilistin. Wie sie die wachsende Liebe der beiden Frauen sowie die Emanzipation Merets beschreibt, gehört zu den magischen Leseerlebnissen.Yael Inokai: «Ein simpler Eingriff». Hanser Berlin. 187 S., um Fr. 30.-

Yael Inokai: «Ein simpler Eingriff». Hanser Berlin. 187 S., um Fr. 30.-

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