Giovanni Bonalumi: Die Geiseln, 1954

Die Welt (nicht) entdecken

Emilio ist elf, als er in eine andere Welt eintritt. Von einem Tag auf den anderen. Der Vater ist gestorben, ganz plötzlich, und Emilio spürt mehr als dass er es wüsste: Die Kindheit ist vorbei: das Spielen mit den Freunden am See, die Mutproben mit dem Kletterseil, die scheinbar endlosen Tage unter der heissen Sonne, das mit Öl und Salz getränkte Brot, das er auf der Hafentreppe isst und das «schmeckt wie ranziger Speichel“». Auf den Rat des Dorfpfarrers tritt Emilio ins Priesterseminar ein, für die Mutter ist es ein Trost zu wissen, dass der Junge gut versorgt ist und vielleicht, wer weiss, dereinst einmal für sie sorgen kann.

Im Seminar besteht das Leben aus Regeln, Vorschriften, Verboten. Die Zeit scheint stillzustehen, es gibt die Grossen und die Kleinen, was sie verbindet, ist die schwarze Soutane, die sie tragen. Die Gymnasiasten dürfen nicht mit den angehenden Theologen reden. Höchstens, dass sie manchmal Fussball spielen miteinander, im Übrigen besteht das Leben aus Ritualen. Die Kirchenglocken setzen den Takt eines Tages, der sich stets aufs neue zu wiederholen scheint, die Stunde dauert vom Introitus der Messe bis zum Evangelium. Und über allem wacht der Rektor und der Präfekt, der alles sieht und Verstösse gegen die Disziplin unerbittlich ahndet.

Unter den Mitschülern gibt es Gruppen. Manchmal werden so etwas wie Freundschaften daraus, aber Freunde, wie er sie von früher kennt, hat Emilio keine. Und überhaupt ist das alles für ihn undurchdringlich. Priester werden soll er, soviel weiss er, aber ob er das kann, weiss er nicht, und die Jahre im Seminar bringen ihn einer Antwort nicht näher. Manchmal sieht er in der Nacht durchs Fenster ein Stück Himmel. Emilio füllt das Fenster mit Sternen und beginnt sie zu zählen. Immer wieder.

Es sind nie gleich viele. «Wahrscheinlich sind solche darunter, die eben in diesem Moment entstehen», stellt er sich vor: «Ich schliesse lieber die Augen, denke nach.» Und wer weiss, was wäre, wenn es Ilaria nicht gäbe, die am Hügel hinter dem Seminar wohnt. Einmal sind Emilio und sie sich begegnet, sie haben miteinander gesprochen. Ein paar Worte nur, aber die Welt war eine andere geworden.

Giovanni Bonalumis Roman «Die Geiseln» erschien 1954 und stiess im Tessin auf heftige Kritik. Gotteslästerung warfen kirchliche Kreise dem Autor vor, und dass dieser für das Buch mit dem Charles-Veillon Preis geehrt wurde, dürfte sie kaum besänftigt haben, im Gegenteil. Bonalumi erzählt seine eigene Geschichte. 1920 in Muralto geboren, trat er nach dem Tod seines Vaters ins Priesterseminar Lugano ein. Nach zehn Jahren, er war einundzwanzig, trat er aus dem Seminar aus, holte am Kollegium in Einsiedeln die Matura nach, studierte in Fribourg Romanistik und wurde Lehrer, Übersetzer und schliesslich Professor für italienische Literatur an der Universität Basel.

An den Erfolg seines ersten Romans konnte Bonalumi nie mehr anknüpfen, obwohl er neben der wissenschaftlichen Arbeit eine Reihe weiterer Werke schrieb. «Die Geiseln» erzählen vom Erwachsenwerden. Davon, was es heisst, die Welt zu entdecken, wenn man die Welt nicht erfahren darf. Und von der Liebe, ohne die wir nicht die geworden wären, die wir sind.

Giovanni Bonalumi: Die Geiseln. Th.Gut/Huber Reprint, S. 200, etwa Fr. 25.-

 

Verkürzter Instagram Post mit mehr Bildern

  • Lebensdaten: 1920 (Muralto) – 2002 (Muralto)
  • Erstausgabe: «Gli Ostaggi», Edizioni Vallecchi, Firenze 1954
  • Moderne Ausgabe:  In der Übersetzung von Giò Waeckerlin Induni und mit einem Nachwort von Danielle Benzonelli erstmals deutsch herausgegeben von Charles Linsmayer. (Reprinted by Huber, Bd. 27). Verlag Huber, Frauenfeld 2010.
  • Lesetipps: «Per Luisa» (Roman, 1972), «Il Profilo dell’eremita» (Erzählungen, 1996)
  • Fussnoten: «Die Geiseln» war Giovanni Bonalumis erstes Werk und wurde 1954 mit dem Prix Charles Veillon ausgezeichnet. Es ist das einzige von Bonalumis Werken, das auf Deutsch übersetzt wurde.

    #Jugend, Religion, Lugano, Freundschaft, Ausbruch