POSTKARTEN BUCHTIPP: Blutbuch

Woher dieser Hass?

Woher kommt dieser Hass? Und wie erklärt sich diese Missgunst? Kim de l’Horizon gewinnt mit dem Roman «Blutbuch» den Jürgen-Ponto-Preis, den Deutschen und den Schweizer Buchpreis, und in den sozialen Medien und den Kommentarspalten von Onlinemedien überschlagen sich die negativen Reaktionen: Das darf nicht sein, ist in Dutzenden von Posts zu lesen – wenn man sie auf das reduziert, was nach Abzug der vor Aggression bebenden, mit üblen Beschimpfungen garnierten Sprache übrigbleibt. Denn «so jemand» wie Kim de l’Horizon bekommt einen Literaturpreis sicher nicht für ein gutes Buch, sondern aus Gründen. Politischen, gesellschaftlichen, was auch immer. «So jemand» ist jemand, der sich als non-binär definiert. Weder Mann noch Frau ist. Von beidem ein bisschen sein will. Aber nichts ganz. In der «Neuen Zürcher Zeitung» hat Kim wenige Tage nach dem Erhalt des Deutschen Buchpreises von einem Mann in der Berliner U-Bahn erzählt. Der Mann schlug seine Faust in Kims mit etwas Lippenstift geschminktes Gesicht: «Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken», sagte er dazu, «aber du bist mir einfach zu viel».

Was ist zu viel? Woher dieser Hass? Und was wäre, denkt man, wenn die Leute Kims Buch lesen würden, statt einfach nur darüber zu reden? Ein wunderbares Buch! Zärtlich, grausam, sinnlich, brutal, liebevoll, grausam und von einer pulsierenden Energie durchzogen. «Blutbuch» erzählt von einem Ich, das in einer Familie unter lauter Frauen aufwächst, bei der Grossmutter, bei der Mutter, die es «Meer» nennt, in der Familie gilt alles Französische als fein, aber unter den Häkeldecken, mit denen die Grossmeer alles zudeckt, lauert eine Kälte, gegen die nichts ankommt, und irgendwie verliert sich das Ich im Meer der beiden Frauen, die eigentlich keine Frauen sein wollen. Und weiss, dass es selber kein Mann werden darf und eigentlich auch nicht will, weil es fühlt, dass es in einem Körper lebt, zu dem es keine Beziehung hat, der sich fremd anfühlt, wie etwas, was nicht zu ihm selber gehört.

Kim de l’Horizon kann wunderbar erzählen, aber mehr als das. Manchmal verliert sich das Ich im Erzählen, dann wieder wird das Erzählen selbst zum Inhalt der Erzählung, das Buch switcht zwischen Code, Tonlagen und Stilebenen. Ein grandioses Verwirrspiel, ob es um die Einsamkeit des Kindes geht, das sich verloren fühlt in einer Schule, in der nur für das Platz ist, was sich der Ordnung fügt, oder um die Haltlosigkeit des Ichs, das sich im exzessiven Sex mit Männern selbst zu verlieren droht.

«Blutbuch» ist mit Blut geschrieben, und natürlich weiss Kim de l’Horizon genau, dass das nur eine verschwurbelte Metapher ist, die sich niemand mehr leisten kann. Aber «Blutbuch» ist auch ein Baum, der im Garten der Grossmutter steht, und für das Kind zum Anker wird in einer Welt, die dem Ich keine Wahl lässt, zu sein, was es ist: anders, aber was heisst das schon?

Kim de l’Horizon: Blutbuch. DuMont Buchverlag. 336 S., etwa Fr. 34.-

Siehe Link zu Instagram für mehr Bilder