Erika Burkart: Ortlose Nähe, 2005

Ortlose Nähe, 2005

Worte waren für Erika Burkart Medien des Sehens. Die Bäume, »bevor sie eingehn ins Dunkel«, werden sichtbar durch das Benennen der vibrierenden Luft, der rauchenden Erde. Und doch wäre es ein grosses Missverständnis zu behaupten, Wirklichkeit sei für die Dichterin nur aus Worten gemacht. Die Welt existiert unbedingt ausserhalb der Sprache und kann verzaubert werden – eine Haltung, die Burkart in den 1970er- und 1980er-Jahren den Nimbus einer Hippie-Märchenfee verlieh; sie vertrat damit eine Gegenposition zur (post)strukturalis- tischen Erkenntnis, dass uns die Wirklichkeit nur durch Zeichen zugänglich sei. Und ihre Erscheinung, die langen, wehenden Haare, die bis zum Boden fliessenden Kleider, trugen das Ihre dazu bei. Genau wie die beschwörende Art, ihre Gedichte zu lesen, als seien sie Teil eines Rituals; mit hauchzarter Stimme, in der die Wurzelkraft der Tiefe immer mitschwang. Dabei wollte sie »nicht belehren und / zu gar nichts bekehren, / es sei denn zum Lesen, zu Achtung / vor Tod und Leben im Innewerden / machtloser Menschen, Wälder, Tiere«, wie es in »Entgegnung« heisst.

Viele der späten Gedichte Erika Burkarts denken über das Alter nach, über das Vergehen der Zeit und das Schwinden der Erinnerung. Dabei sind sie so glasklar in der Gegenwart verortet, dass sich die Melancholie, über die kleinen Metamorphosen des Schreibens hinweg, immer wie- der neu in eine Liebeserklärung an das Leben verwandelt. Mit höchster Präzision erscheinen Blumen, Bäume und atmosphärische Nuancen auf den Buchseiten – und öffnen sich in der Konstellation aus Worten weit ins Transzendente hinaus.

Heute, wo Bücher über den Menschen in der Natur und sein Zusammenleben mit wilden Tieren unter dem Label Nature Writing immer mehr Leserinnen und Leser finden, wartet Erika Burkarts Werk auf eine Neuentdeckung. Als Pionierin eines Genres, das ökologisches Bewusstsein zum Kern des menschlichen Denkens und Fühlens macht.

aus: 99 beste Schweizer Bücher

Erika Burkart: Spiegelschrift

  • Lebensdaten: 1922 (Aarau) – 2010 (Muri)
  • Lesetipps: »Moräne« (Prosa, 1970), »Die Zärtlichkeit der Schatten« (Lyrik, 1991), »Das Schimmern der Flügel. Jugendmythen« (Prosa, 1994)
  • Fussnoten: Erika Burkart war Vorbild und Mentorin für eine ganze Generation von Autoren, insbesondere für Hermann Burger und Klaus Merz.

    #Tiere #Natur #Erinnerung