Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung, 1989

«Die seligen Jahre der Züchtigung» ist eine atmosphärisch dichte Novelle, die fesselt und unter die Haut geht. Das Besondere dieser Internatsgeschichte ist die kühle und distanzierte Erzählweise, mit der eine 14-jährige Ich-Erzählerin von den ungeheuerlichen Ereignissen in den vier Wänden eines Schweizer Mädchenpensionats während der 1960er Jahre berichtet. Die schmale Erzählung hat in Italien bei ihrem Erscheinen sofort für Furore gesorgt, gleich drei Preise erhalten und ist in mehr als zehn Sprachen übersetzt worden.

Wovon handelt die Novelle? Eine 14-Jährige berichtet, wie sie in ihrer Jugend hin- und hergeschoben wird und schliesslich in einem Internat im Appenzell landet, wo sie lauter Mädchen aus reichem Hause und zerrütteten Familienverhältnissen begegnet. Den Vater sieht sie sporadisch in den Ferien in Hotels, die Mutter schickt erzieherische Anweisungen per Post aus Brasilien. Das Internat erscheint ihr wie ein Gefängnis mitten in einer idyllischen Landschaft, wo Beziehungen ausschliesslich auf Dominanz und Unterwerfung beruhen. Auf heimlichen Spaziergängen frühmorgens entflieht sie dieser erdrückenden Ordnung, bis eines Tages eine neue Heiminsassin ins Pensionat eintritt und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die geheimnisvolle Frédérique fällt durch ihre ausgeprägte Disziplin und ihre gleichzeitige Verachtung für die Welt auf. Zwischen ihr und der etwas jüngeren Ich-Erzählerin bahnt sich eine Annäherung an. Eine gegenseitige erotische Anziehung wird angedeutet. Die Freundschaft bleibt aber distanziert und kühl, bis sie eines Tages abrupt abbricht.

Das Unheimliche und zugleich Faszinierende an der Novelle ist der unterkühlte Erzählton. So wird einerseits sehr nüchtern berichtet, andererseits werden auch kraftvolle Bilder aufgeboten – Betten sind aus Stein, und Leichenhausgeruch herrscht in den Gemäuern der Schweizer Mädchenpensionate, wo jegliche körperliche Regung untersagt ist. Obwohl in der Erzählung fast nichts passiert, bleibt der Eindruck einer gewaltsam niedergehaltenen Bedrohung. Menschliche Abgründe und Katastrophen werden in Nebensätzen wie beiläufig erwähnt. Und wenn zum Schluss Perfektion und Selbstdisziplin in Wahnsinn münden, wird die Kritik an autoritären Einrichtungen auf eindringliche Weise deutlich.

Fleur Jaeggy: «Die seligen Jahre der Züchtigung». (I beati anni del castigo, 1989) Novelle. Übersetzung Barbara Schaden. Suhrkamp Verlag, 1996/2024. 110 S., etwa Fr. 18.-
Aktuellstes Buch: Fleur Jaeggy: «Ich bin der Bruder von XX» (Sono il fratello di XX, 2014) Erzählungen. Übersetzung Barbara Schaden. Suhrkamp Verlag, 2024. etwa Fr. 33.- 

 Aus: «99 beste Schweizer Bücher», Verlag Nagel & Kimche

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  • Lebensdaten: *1940 (Zürich)
  • Originaltitel: «I beati anni del castigo» 1989
  • Lesetipps:
    «Wasserstatuen» (1980; «Le statue d’acqua»), «Die Angst vor dem Himmel» (1994; «La paura del cielo»), «Proleterka» (2001), «Ich bin der Bruder von XX» (2014, «Sono il fratello di XX»)
  • Fussnoten: Fleur Jaeggy ist die Tochter eines Schweizer Vaters und einer italienischen Mutter. Sie lebt seit 1968 in Mailand und schreibt auf Italienisch. Die Autorin und Intellektuelle war enge Vertraute Ingeborg Bachmanns und bis zu seinem Tod mit dem Adelphi-Verleger Roberto Calasso verheiratet. Ihr weltweit gefeiertes Werk umfasst Romane, Erzählungen und Geschichten – beginnend mit «Ich bin der Bruder von XX», wird es fortan vollständig im Suhrkamp Verlag erscheinen.
    2024 wurde Fleur Jaeggy der
    Gottfried-Keller-Preis verliehen, am 30. Mai 2025 erhält sie für ihr Gesamtwerk der Schweizer Grand Prix Literatur.
    #Gewalt, Kindheit, Familie, Sexualität