Ulrich Becher: Murmeljagd, 1969

Paradies und Hölle

Über Ulrich Bechers «Murmeljagd» kann man eigentlich gar nicht schreiben. Tut man es trotzdem, bleibt ein Unbehagen: Ganz sicher sagt man lauter Dinge, die mit dem Buch zwar zu tun haben, aber das, was es im Kern ausmacht, nicht treffen. Oder man verliert sich in Details dieses überbordenden, labyrinthischen Romans. Und verfehlt dabei den Schwung der Sprache, die einen als Leser durch das Geschehen jagt wie eine Kugel durch einen Flipperkasten.

Ulrich Becher, Sohn eines preussischen Anwalts und einer Schweizer Pianistin, ist heute fast vergessen. Die 1969 erschienene «Murmeljagd» auch. Zu Unrecht. Es ist ein wunderbares Buch. Hauptfigur ist Albert Trebla, Österreicher, aus aristokratischer Familie, Sozialdemokrat. Nach dem «Anschluss» 1938 gilt er als politischer Feind und muss aus Wien verschwinden. Auf Skiern flieht er über die Vorarlberger Alpen und rettet sich vor der Gestapo in die Schweiz.

Er kommt ins Engadin. Mit seiner Frau Xana bezieht er in Pontresina zwei kleine Zimmer. Er ist in Sicherheit. Aber bedroht. Da ist die Fremdenpolizei, die den Flüchtling gern abschieben würde. Aus dem Ausland kommen Hiobsbotschaften: Treblas bester Freund wird im KZ ermordet, sein Schwiegervater verhaftet.

Trebla hat Angst. Hinter jedem Haus, hinter jeder Arve vermutet er Verfolger. Ab und zu begegnet er zwei seltsamen Gestalten. Mörder, die auf ihn angesetzt sind? Oder Murmeltierjäger, wie diese selbst behaupten? Trebla fühlt sich wie in einer Falle. Er schliesst Bekanntschaft mit einem exzentrischen Kunstsammler und einem versoffenen Anwalt, der sich mit sabbernden Cocker-Spaniels umgibt. Und macht seltsame Entdeckungen.

«Murmeljagd» spielt in einem so idyllischen wie monströs überhöhten Engadin. Die Landschaft ist Paradies und Hölle zugleich. Ein Panoptikum von bizarren Gestalten, grotesken Geschichten und unerklärlichen Begebenheiten. Becher erzählt ungestüm, mit abgründigem Humor. Und zugleich unendlich liebevoll. Manchmal glaubt man beim Lesen die nebelfeuchte Nachtluft in Sils auf den Wangen zu spüren. Und merkt plötzlich, dass Hunde lächeln können.

Ulrich Becher: Murmeljagd. Roman. Mit einem Essay von Eva Menasse.
Taschenbuch: Diogenes Verlag, 2022, S. 720, etwa Fr. 22.-
Hardcover: Schöffling & Co. Verlag, 2020,  etwa Fr. 37.-

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  • Lebensdaten: 1910 (Berlin) – 1990 (Basel)
  • Lesetipps:
    «Männer machen Fehler» (1932). «Der Bockerer »(1946) zusammen mit Peter Preses verfasst, 1978 in Mannheim uraufgeführt und mehrfach verfilmt. «New Yorker Novellen» (1950), «Kurz nach 4» (1957), «Murmeljagd» (1969), «William’s Ex-Casino» und «Das Profil» (1973).
  • Fussnote:
    Ulrich Becher, Sohn des Rechtsanwalts Richard Becher und der Schweizer Pianistin Elisa Ulrich, studierte Jura in Genf und Berlin und war Grafikschüler beim berühmten Maler George Grosz. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang ihn ins Exil: Über Österreich ins schweizerische Pontresina, weiter nach Brasilien, New York, nach dem Krieg zurück nach Europa, ab 1954 bis zu seinem Tod 1990 lebte er in Basel.
    Ulrich Becher ist einer der sprachmächtigsten und mit Humor gewappnetsten Autoren der deutschsprachigen Exilliteratur. «Murmeljagd» ist sein Meisterwerk. Bechers Nachlass liegt zu gleichen Teilen im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern sowie im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main.

    # Krieg, Satire, Engadin, Exil, Krimi