Frédéric Pajak: Ungewisses Manifest, 2012

Ein Manifest drückt immer etwas Bestimmtes, etwas Zukunftsweisendes aus. Es legt die Richtung einer Kunst- oder Literaturbewegung fest oder einer politischen Gruppierung. Nicht so beim Schriftsteller und Maler Frédéric Pajak. Sein grosses, eindrückliches, auf neun Bände angelegtes Manifest hat weder etwas Deklamatorisches noch Absolutes, sondern vielmehr etwas Suchendes. Deshalb nennt es Pajak »Ungewisses Manifest«, auf Französisch »Manifeste incertain«.

Es ist nicht ganz einfach, dieses literarische, philosophische und künstlerische Meisterwerk richtig zu fassen, das eine Auszeichnung nach der anderen erhält – so den Schweizer Grand Prix Literatur 2021, den renommierten französischen Prix Goncourt de la biographie 2019 und den Schweizer Literaturpreis 2015. Es ist eine Art sehr persönliches Tagebuch, in dessen Mittelpunkt Biographien verstorbener Dichter und Denkerinnen stehen, die Pajak mit Analysen, Einfällen, autobiographischen Einschüben, Reflexionen und grandiosen Tuschzeichnungen ergänzt. Das »Ungewisse Manifest« ist keine Graphic Novel, es ist ein Kunstbuch, in dem Pajak die Leserin und den Leser über zwei Ebenen anspricht: über meist düstere Porträts, Landschaftszeichnungen und Grossstadtszenen, welche die Innenräume der Protagonisten ausleuchten und oft beklemmend, abgründig wirken, und über nüchterne, präzise Texte mit Zitaten und Gedichten. Beide Ebenen verschmelzen zu einem einzigartigen Gesamtkunstwerk.

Frédéric Pajak blickt als Melancholiker auf das 20. Jahrhundert. Die grossen Ideologien oder eben Manifeste des Faschismus, des Kommunismus und des Kapitalismus, heute getarnt als Liberalismus, haben ihre Versprechen an die Zukunft und Hoffnungen nicht eingehalten. Daran will Pajak in seinem eigenen »Ungewissen Manifest« erinnern, an die geistigen und ideologischen Irrungen und Verwirrungen in Kunst und Politik, die zu den bekannten Katastrophen führten, sowie an die ungehörten Stimmen.

Dabei lässt der Autor grosse Persönlichkeiten auftreten, deren Lebenswege und intellektuelle Reisen er einfühlsam beschreibt und zeichnet. Es sind dies Walter Benjamin, Samuel Beckett, André Breton, Hannah Arendt, Ezra Pound, Marina Zwetajewa, Emily Dickinson, James Joyce, Ludwig Hohl, Andrzej Bobkowski oder Adrienne Monnier. Ihnen verleiht Pajak eine Stimme, die auch seine eigene ist. Er stemmt sich mit aller Kraft gegen ihr Vergessenwerden und gegen den Verlust der Vergangenheit.

So nimmt Walter Benjamin im ersten und dritten Band seines Opus eine zentrale Rolle ein als visionärer Intellektueller und versehrter Träumer in der Landschaft, der sich Fragen stellt über die Geschichte, über das Aufkommen des Nationalsozialismus und der Massenkultur. Nach einem ersten Aufenthalt auf Ibiza, 1932, flüchtet er 1933 aus Berlin und kehrt auf die Insel zurück. Es ist der Moment des Zusammenbruchs, des definitiven Exils, der Armut und der Einsamkeit.

Die Synthese zwischen den Zeichnungen, die sich einbrennen, und den biographischen, philosophischen und literarischen Texten ist einzigartig. Das »Ungewisse Manifest« ist ein ebenso ambitioniertes wie aussergewöhnliches bibliophiles Projekt.

aus: 99 beste Schweizer Bücher

  • Lebensdaten: 1955 (Suresnes / Frankreich)
  • Originaltitel: »Manifeste incertain«
  • Fussnoten: Frédéric Pajak arbeitet als 18-Jähriger in Italien als Liegewagenschaffner, als er das erste Mal über ein Buch mit dem Titel »Ungewisses Manifest« sinniert. Es ist die Zeit, in der das Land von Attentaten erschüttert wird und sich überall in den Köpfen linksextreme und faschistische Ideologien überschlagen. Die Idee, dies alles in einem Buch aufzuarbeiten, lässt ihn nie mehr los, doch erst 40 Jahre später, 2012, gibt Pajak den ersten Band seines neunteiligen Zyklus heraus.