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Was es bedeutet, Mensch zu sein
Ein Friedhof in Zürich. Ein älteres Paar sucht eine Grabstätte – für eine gemeinsame Zukunft über den Tod hinaus. Diese Szene, verknüpft mit Spaziergängen und Beobachtungen der Natur und sich wandelnden Landschaften, eröffnet Adolf Muschgs Erzählung «Nicht mein Leben». Sie setzt melancholisch und ironisch den Ton für eine intime, nachdenkliche Lebensreise.
August Mormann, das Alter Ego des Autors, und seine japanische Frau Aki beschliessen, wo sie dereinst begraben sein wollen. Doch kurz darauf ist Aki spurlos verschwunden, und Mormann bleibt allein zurück. In seinem Haus, das er als «Rumpelkammer» seiner Erinnerungen beschreibt, beginnt eine Zeit des Nachdenkens – über die Vergangenheit, die Gegenwart und den Ausblick auf das Ende.
Mit «Nicht mein Leben» legt Muschg ein literarisches Lebensfazit vor, das zugleich mit Distanz zum eigenen Leben spielt. Der Titel – eine bewusste Verneinung – signalisiert diese Ambivalenz. Die Parallelen zu Muschgs Biografie sind unverkennbar: der frühe Tod des Vaters, die psychischen Probleme der Mutter, die Internatsjahre, die späte Ehe mit einer Japanerin. Doch durch den Wechsel zwischen Ich- und Er-Perspektive löst der Autor die Grenzen zwischen Fiktion und Realität geschickt auf.
Die Erzählung führt August Mormann in das «Museum meiner Vergangenheit», wie er sein Leben nennt. Dort begegnet er Erinnerungen an Verluste, strenge Erziehungsprinzipien und prägende Momente, die ihn als Menschen formten. Doch Mormann bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. In einer Schlüsselszene reist er zu einer Europatagung nach Triest, um über das Thema «Europa, wohin?» zu sprechen. Der Krieg in der Ukraine, die Corona-Pandemie und die Spannungen des Kontinents prägen seine Überlegungen. Wie kann Europa sich erneuern, ohne seine Seele zu verlieren?
Der Vortrag verliert sich in den Mythen des antiken Griechenlands, der Wiege Europas, und wird von den Zuhörern als zu weit weg kritisiert. Doch genau in diesen Mythen, vor allem in der Figur des Odysseus, sucht Mormann Antworten. Odysseus, der ewige Suchende, wird zur Metapher für das Leben: ein Weg voller Irrungen und Ambivalenzen, ohne klare Lösungen.
Neben den grossen Fragen von Identität, Europa und Geschichte widmet sich das Buch auch den zwischenmenschlichen Momenten. Die Beziehung zwischen Mormann und Aki wird zart und einfühlsam geschildert: ihre Nähe, ihre kulturellen Unterschiede und schliesslich die Leerstelle, die Aki hinterlässt, als sie verschwindet. Mormann bleibt allein in seinem Atelierhaus, einem Ort der Reflexion und des Rückzugs, das er akribisch beschreibt.«Die Höhle ist eine Entbindungsstation», sinniert er. Vielleicht ist es diese Höhle, aus der er sich selbst befreien muss.
«Nicht mein Leben» ist ein kluges, vielschichtiges Werk über Verlust, Erinnerung und die Suche nach Sinn. Muschg gelingt es, seine persönliche Lebensgeschichte mit den Herausforderungen unserer Zeit zu verknüpfen. Die Erzählung ist melancholisch, humorvoll und präzise beobachtet. Sie kreist um die schwierige Frage: Was bedeutet es, Mensch zu sein?
Adolf Muschg: Nicht mein Leben. C.H. Beck, München 2025. 176 S., etwa Fr 35.-
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👉📕 Im Buch «99 beste Schweizer Bücher» ist Adolf Muschg mit «Der rote Ritter» (1993) vertreten.