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Ein Stück Familiengeschichte
«Er» ist immer da. Jeden Tag. Und vor allem nachts. Da kommt er, ohne dass man ihn sieht. Man kann ihn nur hören. Ganz leise, ein wenig lauter als der Wind, der draussen in den Bäumen spielt. Lauter als das Atmen vom Ätti. «Er», das ist die Angst. Ein sonderbares Gefühl. Wie wenn man nicht sich selbst gehören würde. Der Ätti liegt unten neben dem Ofen, kann sich kaum bewegen. Seit einem Unfall. Einen Schacht wollte er sprengen. So, wie er es immer getan hat. Doch die Explosion kam zu früh. Sie warf ihn um, sein Bein wurde verletzt.
Das Bein blieb krumm. Seither kann der Ätti nicht mehr laufen. Eine Arbeit hat er keine mehr. Es kommt kein Geld mehr ins Haus. Dabei bräuchte der Ätti einen Doktor. Oder wenigstens Medikamente. Aber beides ist zu teuer. Die Mutter macht Umschläge für den Vater, aus Kräutern. Sie macht den Nachbarn die Wäsche, für einen Laib Brot. Manchmal ein Stück Fleisch. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Die sechs Kinder helfen, wo sie können. Die Buben hüten Vieh, helfen Obst lesen. Es reicht nirgends hin.
Die Mutter entschliesst sich, die Kinder zu verdingen. Martha weiss nicht, was das heisst. Aber sie spürt bald, was es bedeutet. Sie kommt auf einen kleinen Bauernhof, wo sie noch weniger hat als zuhause. Einen kleinen Verschlag, wo sie schläft, immer Hunger. Und vor allem Arbeit.
Lukas Hartmanns Roman «Martha und die Ihren» erzählt von der Armut in der Schweiz. Davon, was es hiess, arm zu sein, am Ende eines Jahrhunderts, das dem Land Reichtum brachte. Aber nicht allen, die in dem Land lebten. Martha, das ist Hartmanns Grossmutter, die in einer Bauernfamilie aufwächst und lernt, dass man keine Schwäche zeigen darf, auch wenn man keine Kraft mehr hat. Und dass man hart sein muss. Mit sich und anderen. Hartmann erzählt das Leben seiner Grossmutter. Und entdeckt eine Geschichte, die auch seine eigene ist.
Lukas Hartmann: Martha und die Ihren. Roman. Diogenes-Verlag, Zürich 2024. 304 S., etwa Fr. 28.–.