POSTKARTEN BUCHTIPP: Fliegende Träume

Fliegende Träume

Wer hat nicht schon davon geträumt, weit weg zu fliegen, die Welt von oben zu entdecken. So geht es auch der Mutter, die abgelegen in den Bergen lebt, zusammen mit dem Mann und fünf Kindern. Ein karges, enges Tal, umringt von massivem Gestein. Eines Tages stürzt ein gelbes Flugzeug ab, mitten in die kleine Welt auf das Grundstück der Eltern. Der Pilot wird bewusstlos und mit zahlreichen Brüchen geborgen und ins Bauernhaus gebracht, wo ihn die Mutter pflegt und ihm kaum von der Seite weicht. 

«Der Pilot träumt vom Fliegen. Vom Fliegen träumt der Pilot.» Mit diesen Sätzen beginnt der wundervolle Erstlingsroman «Buchpiloten» von Claudia Walder. Der Text ist mehr als eine Entdeckung, er ist ein Geschenk. Die Mutter lauscht den Fieberträumen des Piloten über das Fliegen –  über seine fiebernden Worte beginnt sie zu träumen und fliegen. Und mit ihr begeben sich die Leserinnen und Leser auf eine unvergesslichen Reise. 

Claudia Walder erzählt die Geschichte der Mutter, die einst mit ihrer Jugendliebe den Weiler verlassen wollte, um die weite Welt zu erkunden und ein anderes Leben zu führen. Der grosse Lebenstraum platzt. Die Mutter kommt über die tief sitzende Enttäuschung hinweg, dank der Eltern, der harten Arbeit und den Hühnern auf dem Hof, mit denen sie spricht und die sie trösten. Sie trifft den Vater, gründet mit ihm eine Familie und lebt zufrieden. Den Traum vom Entfliehen, Reisen und Fliegen hält sie ganz klein in sich geborgen. Nur manchmal im Dunkel der Nacht entweicht er aus ihrem Herzen. Mit dem Absturz des Flugzeugs, dem schwer verletzten, bewusstlosen Piloten im Haus bricht der Damm der Sehnsucht: «Ein tiefer, freier Atemzug, der so nah und doch unerreichbar ist, dass es schmerzt.» Die Familie entdeckt eine neue Seite der Mutter, der in den Bergen verwurzelte Vater wusste darum und legt ihr sanft die Hand auf die Schulter.

Die Figuren, namentlich die Beziehung zwischen Mutter und Vater sind berührend geschrieben und gezeichnet. Mit erzählerischem Elan und poetischer Kraft dringt die Autorin in die Lebenswelten der Grosseltern, Eltern und Kinder ein und fächert liebevoll-zurückhaltend die verschiedenen Facetten auf. Kleine Details entfalten eine magische Kraft wie die Stickereien im Flickkorb der Mutter. «Die Mutter geht, der Kaffee des Vaters wird kalt. Er weiss jetzt, wie sich die Mutter gefühlt hat im Hühnerstall, all die Jahre zuvor, als sie den Piloten ins Tal gebracht haben. Aber der Vater träumt nicht vom Fliegen, er träumt vom Berg. Auch wenn der Berg heute auf seinen Schultern sitzt, ihm die Brust zudrückt, ihn am Aufstehen hindert. Der Vater bleibt sitzen.»

Claudia Walders mutiger, souveräner Text übt eine magische und gleichzeitig existenzielle  Sogwirkung aus. Auf unserem Lebensweg sind wir alle Bruchpiloten, unterwegs zu unseren Träumen – und sehen wie der Vater die Welt plötzlich aus einem anderen Blickwinkel. 

Claudia Walder: Bruchpiloten. Verlag die Brotsuppe, 2022. 100 S., Fr 25.-.

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