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Sich auf die Welt einlassen

Sich auf die Welt einlassen

 

Man kann in der Welt nicht heimisch werden. Wahrscheinlich. Aber man kann in ihr zuhause sein. Was nicht heisst, dass man sie so gut kennen würde, dass man von ihr nicht mehr überrascht würde. Im Gegenteil, in der Welt zuhause zu sein, heisst vielleicht eben dies: dass man aufmerksam ist für das, was sich in ihr ereignet, und dabei genau weiss, dass man jederzeit auf Dinge stossen kann, die man nicht für möglich gehalten hätte.

Das ist eine Kunst. Und vielleicht hat sie kaum jemand so gut und zugleich so selbstverständlich beherrscht wie Hugo Loetscher. Unter den Schweizer Autoren war er der grosse Reisende. Seit den sechziger Jahren besuchte er regelmässig Lateinamerika, später den Fernen Osten, Indien und China. Europa und die Mittelmeerländer sowieso.

Dass er über das, was er sah, auch schrieb, war für Hugo Loetscher selbstverständlich. Erst im Schreiben wurde ihm das, was er gesehen hatte, zum Bild. Zu etwas, das man bewahren und, vielleicht, verstehen konnte. Auch Reisen ist eine Kunst, und die Klagen über ihren Niedergang zeigen vor allem ein Ungenügen, dass wir an uns selbst haben. An unserer Zeit, die wir als zu schnell empfinden, als dass wir uns in ihr zurechtfinden würden.

In den Reise-Essays und Reportagen, die er über Jahrzehnte für verschiedene Schweizer Zeitungen schrieb, zeigt sich Loetscher als Meister der Geschwindigkeiten. Er nimmt sich Zeit, zelebriert die Langsamkeit eines Nachmittags auf einem Dorfplatz im Süden. Und geniesst die Hektik eines Morgens in einer südostasiatischen Stadt.

Es sei gerade der rasche Szenenwechsel, der ihn am Reisen fasziniere, hat Loetscher einmal gesagt. Das unbeschreibliche Gefühl, eben noch in einer mitteleuropäischen Stadt gewesen zu sein und sich ein paar Stunden später in einer völlig anderen Kultur wiederzufinden. In den Texten, die unter dem schönen Titel «So wenig Buchstaben und so viel Welt» zusammengestellt sind, lässt sich erfahren, was reisen heisst: sich auf die Welt einlassen, im Wissen darum, dass sie einem immer ein bisschen fremd bleiben wird.

 

Hugo Loetscher: So wenig Buchstaben und so viel Welt. Reise-Essays und Reportagen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jeroen Dewulf und Peter Erismann. Diogenes-Verlag, Zürich 2024. 480 S., etwa Fr. 34.90.

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