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Technik, Traum und Trauma

Jonas Lüschers neuer Roman «Verzauberte Vorbestimmung» ist ein literarisches Meisterwerk, das technologische Errungenschaften und deren Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Die zentrale Frage: Welche Versprechen birgt der Fortschritt, und wo liegen seine Grenzen?

Lüscher erzählt in kunstvoll verwobenen Episoden von unterschiedlichen Zeiten und Schauplätzen. Wir begegnen einem algerischen Soldaten im Ersten Weltkrieg, der sich angesichts des industriellen Tötens während eines Giftgasangriffs verweigert und flieht. Wir finden uns inmitten der maschinenstürmerischen Weberaufstände des 19. Jahrhunderts und begleiten den Schriftsteller Peter Weiss, der 1960 das fantastische «Palais Idéal» des Briefträgers Ferdinand Cheval in Frankreich besucht – ein steingewordenes Sinnbild menschlicher Träume und Obsessionen. Gleichzeitig entführt Lüscher die Leserinnen in futuristische Welten, etwa in das sterile Neu-Kairo, eine dystopische Stadt mit Cyborgs und voller technischer Kälte.

Der Roman ist mehr als eine historische oder technische Reflexion. Lüschers eigener, persönlicher Kampf mit einer schweren Corona-Erkrankung verleiht der Erzählung eine existenzielle Tiefe. Nach sieben Wochen im künstlichen Koma, verkabelt mit lebensrettenden Maschinen, stellt der Erzähler die Abhängigkeit des Menschen von Technologie infrage. Diese autobiografische Erfahrung verleiht seinen Überlegungen zu Fortschritt und Menschlichkeit eine beklemmende Authentizität.

Mit literarischer Virtuosität lotet Lüscher die Ambivalenz von Technik aus: Sie rettet Leben und zerstört sie zugleich, sie verspricht Freiheit und Fortschritt, führt aber auch zu Abhängigkeit. «Verzauberte Vorbestimmung» ist ein komplexer Roman, der fordert, reflektiert und nachhallt – ein Werk, das sich den grossen Fragen der Menschheit stellt und dabei zu einem beeindruckenden Ereignis wird.

Jonas Lüscher: «Verzauberte Vorbestimmung». Carl Hanser Verlag, München 2025, 352 Seiten, etwa Fr. 35.-

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