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Ein anderes Leben
Am frühen Morgen, in der Backstube, misst sie Wasser ab, giesst es in die Teigschüssel. Leert Mehl hinein. Hefe und Salz. Dann schaltet sie die Teigmaschine an. So, wie ihr Mann das gemacht hat. Als er noch lebte. Hat sie ihn geliebt? Vielleicht. Doch, doch, wahrscheinlich schon. Auch wenn es nicht einfach war mit ihm. Als er starb, hat sie weitergemacht. Da, wo er aufgehört hatte.
Mariann Bühlers erster Roman «Verschiebungen im Gestein» ist ein Protokoll der Gewohnheiten, die das ausmachen, was man Alltag nennt. Elisabeths Leben besteht aus Handgriffen. Ein Tag ist wie der andere. Sie tut, was sie tun muss. Und fragt sich manchmal, ob es das ist, was man leben nennt. Dann möchte sie weg. Aus der Backstube, aus der Bäckerei, aus dem Dorf. Und ja, aus diesem Leben. Aber wohin? In ein anderes Leben?
Ausgesucht hat sie sich ihr Leben nicht. Genauso wenig wie Alois. Den Hof hat er von den Eltern übernommen, aber die sind tot. Die Schwester kommt ab und zu vorbei. Hilft im Haushalt. Sonst ist er allein. Mit den Kühen. Und fünfzehn Jahre lang mit dem Hund, den die Mutter ihm geschenkt hatte. «Einen Bauernhof führt man nicht allein, sagte sie, und bis die rechte Frau komme, helfe der Vierbeiner aus.» Dann ist der Hund gestorben. Und das mit Ruth ist nichts geworden. Es kam anders, als er dachte. Als sie dachte.
«Verschiebungen im Gestein» schildert Bruchstücke von Biografien. In einer feinen, luftigen Sprache, die genau ist, aber den Figuren nie zu nahe tritt. Mariann Bühler erzählt von drei Menschen, die sich nicht kennen, aber vieles gemeinsam haben. Neben Elisabeth und Alois ist da noch ein namenloses Du, das etwas sucht. In der Kindheit, im Dorf. Und entdeckt, das im Leben auch das fortwirkt, was früher war.
Alois übergibt den Hof für ein Jahr einem Paar. Geht weg. Elisabeth bleibt. Und bleibt vielleicht doch nicht ganz. Mariann Bühler erzählt davon, was das heisst: Leben. Und was es heissen könnte, sein eigenes Leben leben.
Mariann Bühler: Verschiebung im Gestein. Roman. Atlantis-Verlag, Zürich, 2024. 206 S., etwa Fr. 32.-
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