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Der Gletscher ruft

Der Aufstieg ist hart. Einsam und gefährlich. Gefährlich nicht nur wegen der schroffen Felsen, den Steinschlägen, Abgründen, Klüften oder plötzlichen Wetterumschwüngen. Der Weg hinauf bietet Raum für eine Flut an Gedanken, an Reflexionen über sich, den Alltag und das Leben. 

Die beiden Frauen Annina und Irma machen sich alleine auf zum selben Gletscher. Zwischen den beiden hochalpinen Tageswanderungen liegen Jahrzehnte. Zwei unterschiedliche Frauen, zwei unterschiedliche Lebensumstände, denen sich die Berner Schriftstellerin Marianne Künzle, die im Wallis lebt, in ihrem Buch “Da hinauf” annimmt. 

Der Grund für die Wanderung ist unterschiedlich. Annina zieht los, weil ihre Freundin am Vorabend erkrankt und nicht mitkann; Irma lässt einen Familienstreit hinter sich zurück. Magischer Anziehungspunkt ist der Gletscher, hoch oben, vermeintlich majestätisch in sich ruhend, doch in ständiger Bewegung. Er wird zum Sinnbild für die Lebenssituationen von Annina und Irma. 

Marianne Künzle nähert sich der grandiosen, erhabenen und beunruhigenden Bergkulisse in einer eindrücklichen, bildgewaltigen Sprache an. Die Schroff- und Sprödheit der Landschaft findet ihren Niederschlag in kurzen, kargen Sätzen, die einen urtümliche Kraft und Schönheit entwickeln. Besonders eindrücklich in beiden Beschreibungen ist, wie der Gletscher sich wandelt, in den Jahrzehnten geschrumpft ist, wie er Geröll und Moränen zurücklässt und allmählich verschwindet.  Annina und Irma sind mit Beobachten, Staunen und Nachdenken beschäftigt und stossen unerwartet aufeinander. Aber nicht so, wie wir erwartet hätten. 

Marianne Künzle: Da hinauf. Nagel & Kimche, Zürich 2022. 118 S., Fr 20.-

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