POSTKARTEN BUCHTIPP: Und plötzlich Frau

Es war ihr Schicksal, und es ist immer noch. Sie stehen an der Seite berühmter Männer, gelegentlich in deren Scheinwerferlicht, doch es gibt kaum Erinnerungen an die Frauen. In der Kunst ist dies nicht anders als in der Geschichte, Wissenschaft und Wirtschaft. Zum Glück gibt es Schriftstellerinnen und Historikerinnen, die seit geraumer Zeit an vergessene Frauen erinnern, sie aus dem Schattenreich zerren oder im Falle von Martina Clavadetscher von den Leinwänden holen. In ihrem Erzählband «Vor aller Augen» setzt sich die Autorin mit 19 Frauen auseinander, die für weltberühmte Gemälde von Leonardo da Vinci, Vermeer, Rembrandt, Courbet, Schiele oder Munch allesamt Modell standen. Seit Jahrhunderten hängen sie in den Museen, werden millionenfach reproduziert und sind unseren mal bewundernden, mal voyeuristischen Blicken ausgesetzt. Martina Clavadetscher gibt diesen stummen Frauen eine Stimme. Sie suchte nach Hinweisen aus deren Leben, mischte diese mit ihrer Phantasie und Erzähllust, so dass 19 Porträts in stilistisch unterschiedlichen Kurzgeschichten entstanden sind. Neben der «Dame mit Hermelin» von da Vinci stösst man auf Delacroix’ «Orpheline» oder Munchs «Madonna», die ihre Geschichte erzählen und plötzlich zu einer eigenständigen Persönlichkeit werden. «Vor aller Augen» ist ein kurzweiliges Buch voller Überraschungen und unerwarteter Wendungen. 

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Unionsverlag, Zürich 2022. 234 S., Fr. 33.90.

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