Bleiben Sie informiert:
POSTKARTEN BUCHTIPP
Tote Vögel müssen fliegen
Tote Vögel müssen fliegen
«Tote Stare muss man fliegen lassen», sagt Hajo. Und hilft Zoran, den Vogel zu begraben, der gegen die Fensterscheibe geflogen ist. In der Luft, aufgespiesst am Ast eines Berberitzenstrauchs am Bach unten. Wer Vögel festhalte, bringe das Gleichgewicht durcheinander, sagt Hajo: «Das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod ist eine fragile Sache». Darum geht es in Timo Krstins Roman «Wolfsmilch». Um das Gleichgewicht. Und darum, was geschieht, wenn die Toten übermächtig werden. Oder die Lebenden zu schwach sind, um die Toten zu ertragen.
Zoran und seine Freundin Michi ziehen in Michis Elternhaus nach Schatterbach. Ein Dorf irgendwo in der Ostschweiz. Aber nicht von dieser Welt. Michi ist Archäologin. Sie soll das Ortsmuseum neu einrichten. In der Gegend sind bedeutende Funde gemacht worden. Zoran arbeitet ein bisschen für die Gemeinde. Die Website neu gestalten und so. Vor allem: Weg vom Alkohol. Und das Alterszentrum propagieren, das auf dem Gelände von Grubers Sägerei entstehen soll.
Michi möchte ein Kind. Aber das ist alles nicht so einfach. In Schatterbach sind die Toten lebendiger als die Lebenden. Einmal im Jahr gibt es ein Fest. Die Bewohner ziehen mit Vogelmasken durch das Dorf. Doch da sind nicht nur die Masken. Da sind vor allem die Schatten. Die von damals, als Zoran im Suff zugeschlagen hat. Und die Schatten, die sich unter den Masken verbergen. Die Toten, die nicht tot sind. Oder es gar nie waren.
Tim Krstins Erzählung mischt das, was ist, und das, was war, mit dem, was sein könnte auf virtuose Weise zu einem subtilen Albtraum. Ein verderblicher Strudel, in dem sich Zoran nicht mehr halten kann. Auf einmal ist er wieder der Jugo, der er früher immer war. Der Punk am Dorfbrunnen ist vielleicht der Chlaus, dem er den Schädel gespalten hat, das Emo-Girl ist vielleicht Sus, die Nachbarstochter und Annemarie ist Majas Tochter, aber wer weiss das schon. Nur soviel ist klar: Schatten sind nicht einfach Schatten.
Timo Krstin: Wolfsmilch. Edition 8. 248 S., Fr. 38.90.
Siehe Link zu Instagram für mehr Bilder