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Urs Widmer: Der blaue Siphon, 1992
Eine leichtfüssige Zeitreise
Heute gelten sie als der Inbegriff eines ästhetischen Vintage-Produkts: Die blau schimmernden Siphonflaschen, in denen Wasser mit Kohlensäure versetzt wurde. Zu Beginn von Urs Widmers märchenhafter Erzählung erscheint eine davon dem Ich-Erzähler im Traum, «erhöht wie auf einem unsichtbaren Altar, […] leuchtend in einem sonst unsichtbaren Licht, das das Glas funkeln liess. Regenbogenfarbblitze in dem tiefen Blau.» Im Siphon, der wie eine Wunderlampe immer wieder auftaucht im Text, verdichtet sich das Leben mit seiner Gleichzeitigkeit von Liebe und Vergänglichkeit, Glück und Schmerz. Das Wunderbare und das Schreckliche gehören von der ersten Seite der Erzählung an auf verstörende Weise so eng zusammen wie der Traum und das wache Alltagsleben. Beim Erwachen ist der Träumer sofort wieder in der Wirklichkeit von 1991, als der Golfkrieg die Berichterstattung beherrscht: «Ölfelder brannten. Bomben fielen auf Städte. Raketen flogen auf der Höhe der Verkehrsampeln Avenuen entlang und detonierten an ihrem Ende.» Das erinnert den Erzähler an seine Kindheit in Basel, an die Angst vor dem Krieg und die bedrohliche Bombe im funkelnden Siphon.
Es geht in der Erzählung um die Ungeheuerlichkeit des Todes mitten im Leben. Diese Einsicht, die in ihrer Rohheit kaum zu ertragen ist, verwandelt Widmer für seine Leserinnen und Leser nun aber auf eine so verspielte und leichtfüssige Weise in eine beglückende Leseerfahrung, wie man sie der Deutschschweizer Literatur gar nicht zutrauen würde. Dazu operiert er virtuos mit den Möglichkeiten des fantastischen Erzählens, bedient sich bei der Popkultur der 80er-Jahre mit ihrem Zeitreise-Hype rund um die «Back to the future»-Trilogie (1985-1990) und inszeniert das Kino als die grosse mediale Zauberlampe, mit der sein Held durch die Zeit geschleudert wird, einmal in die Vergangenheit, einmal in die Zukunft.
Im ersten Teil der Erzählung ahnt ein 53-jähriger Herr aus Zürich bereits, dass er im falschen Film sitzt – «Der Film war schwarz und weiß, ohne jedes Blau, und es fällt mir schwer zu sagen, was genau eigentlich in ihm vorging». Als er das Kino am Bellevue dann taumelnd verlässt, wird das seltsame Gefühl zur harten Tatsache: Er findet sich in der Vergangenheit wieder. Parallel dazu wird im zweiten Teil ein dreijähriger Knirps aus Basel von seinem Kindermädchen ins Kino gesetzt und dort allein gelassen. Als er mit seiner späteren Tochter – jetzt ein Teenager – «Schmier à la Mara» schleckt – «gekochte Schokolade, geschmolzener Käse, Zucker, Senf und geröstete Brotstückchen» – und dabei Fotoalben anschaut, erkennt er sich selbst im Dreikäsehoch, den ihm Mara als ihren Vater vorstellt. Am Ende sorgen zwei weitere Kinobesuche dafür, dass jeder wieder da ist, wo er hingehört. Der Dreijährige scheint auf seiner Zeitreise zum Schriftsteller geworden zu sein – durch die Erfahrung, dass das Leben radikale Trennungen mit sich bringt und neue Begegnungen. Wie soll man das schon verstehen, wenn nicht in einer Geschichte?
Urs Widmer: Der blaue Siphon. Diogenes Verlag, 128 S., Leinen, etwa Fr. 15.
- Lebensdaten: 1938 (Basel) – 2014 (Zürich)
- Lesetipps:
«Der Geliebte der Mutter» (2000)
«Das Buch des Vaters» (2004)
«Herr Adamson» (2009)
«Wild Herbeigesehntes» Frühe Erzählungen (2024)
- Fussnoten:
Urs Widmer lebte lange in Frankfurt am Main, bevor er sich in Zürich in der Nähe des Hottingerplatzes niederliess; zuerst als Lektor bei Suhrkamp, dann als freier Schriftsteller. Seinen grössten Erfolg als Theaterautor hatte er mit «Top Dogs» (1996), seinem Stück über gekündigte Topmanager, die ihr Leben in den Griff zu bekommen versuchen.
Wirklich berühmt wurde Urs Widmer bei den Leserinnen und Leser mit seinem Spätwerk: «Der blaue Siphon», «Der Geliebte der Mutter« oder «Das Buch des Vaters«.
Aber da ist viel mehr: Zum 10. Todestag ist 2024 «Wild Herbeigesehntes» erschienen, seine frühen Erzählungen, die die Freude durchdringt, das Gebälk der Literatur knarzen zu lassen.
# Familie, Kindheit, Erinnerung, Zeit, Krieg