Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen, 1958

Der Krimi, eines der erfolgreichsten Produkte der populären Literatur des 19. Jahrhunderts, ist auch heute noch klar das beliebteste Genre auf dem Buchmarkt. Als Erklärung dafür wird gern die beruhigende Rückkehr zur Ordnung ins Spiel gebracht, die mit der Lösung des

Kriminalfalls eintritt. Als Leserin und Leser holt man sich vorübergehend eine homöopathische Dosis Verunsicherung ab, fiebert mit Detektiv oder Kommissarin mit und am Ende ist alles gut. Wenn man sich die Krimis der Gegenwart, in der Literatur und im Fernsehen anschaut, wird schnell klar, dass das Genre längst nicht mehr dazu da ist, die Gemüter zu beruhigen, sondern vielmehr diffusen Ängsten eine künstlerische Form gibt.

Friedrich Dürrenmatt war auch im Bereich des Kriminalromans ein Visionär, als er seinen dritten Fall – nach »Der Richter und sein Henker« (1952) und »Der Verdacht« (1953) – mit einem programmatischen Untertitel versah: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Während Miss Marple und Hercule Poirot noch vergnügt ein Rätsel nach dem anderen lösten, verabschiedete sich Dürrenmatt von einem Genre, das den entscheidenden Akteur bei allem mensch- lichen Streben nicht in Betracht zieht: den Zufall.

In der Rahmenerzählung trifft der Ich-Erzähler, ein Krimiautor, auf Dr. H., den ehemaligen Kommandanten der Zürcher Kantonspolizei, der ihm eine wütende kleine Rede über die Abgeschmacktheit, ja Verlogenheit von Kriminalromanen hält. Mit der Realität hätten diese Fiktionen nämlich rein gar nichts zu tun: «[…] in euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle, und wenn etwas nach Zufall aussieht, ist es gleich Schicksal und Fügung gewesen; die Wahrheit wird seit jeher von Schriftstellern den dramaturgischen Regeln zum Frasse hingeworfen. Schickt die- se Regeln endlich zum Teufel.» An diesem Punkt lässt Dürrenmatt, der schlaue Fuchs, seinen Krimiautor die haarsträubende Geschichte nacherzählen, von der ihm Dr. H. berichtet.

Es ist die Geschichte eines kriminalistischen Genies namens Matthäi, eines Kommissars mit den besten Karriereaussichten. Mit seiner Spürnase und seinem Scharfsinn macht er alles richtig auf der Jagd nach einem Serienmörder, der kleine, blonde Mädchen mit Schokolade-Truffes in den Wald lockt. Matthäi studiert die Tatorte und schliesst messerscharf, dass der Täter mit einem Automobil zwischen Chur und Zürich unterwegs sein muss. Der Kommissar übernimmt eine Tankstelle und holt sich eine Frau mit einer kleinen blonden Tochter ins Haus. Die Falle ist gestellt, der Köder ausgeworfen – nur der Mörder geht nicht ins Netz.

Im Drehbuch zum Film »Es geschah am helllichten Tag« (Regie: Ladislao Vajda, 1958), das vor dem Roman entstand, mit Dürrenmatt als Co-Autor, nahm die Geschichte dennoch ein gutes Ende. Der Roman setzt dem immer gut gelaunten Heinz Rühmann-Matthäi einen dunklen Doppelgänger entgegen, der wartet und wartet und wartet und dabei dem Wahnsinn verfällt. Jack Nicholson würde ihn viele Jahre später auf grossartige Weise verkörpern, in Sean Penns Kinoadaption »The Pledge« von 2001.

aus: 99 beste Schweizer Bücher

Siehe auch auf Instagram mit Bildern: Friedrich Dürrenmatt «Der Schachspieler» mit Illustrationen von Hannes Binder

  • Lebensdaten: 1921 (Konolfingen) – 1990 (Neuchâtel)
  • Lesetipps: »Die Panne« (1956), »Die Physiker» (1962), »Turmbau. Stoffe IV-IX« (1990)
  • Fussnoten: Wie man heute im Centre Dürrenmatt überprüfen kann, brauchte Dürrenmatt sowohl das Schreiben als auch die Malerei als Ausdrucksform. Am Anfang seiner Arbeiten stand immer eine Vision, die, zunächst frei flottierend in der Fantasie des Künstlers, ein Medium finden musste: »Plötzlich erfasst mich die Leidenschaft, es ist, als erschaffe sich aus diesem Nichts, aus der weissen Leere des Kartons, von selbst eine Welt.«